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Wie die Gleichberechtigung in das Grundgesetz kam


Elisabeth Selbert und die Implementierung von Artikel 3 Absatz 2 Grundgesetz



"Männer und Frauen sind gleichberechtigt" - ein so kurzer, prägnanter und man wolle sagen selbstverständlicher Satz. Selbstverständlich war dessen Implementierung 1948/49 in unser Grundgesetz allerdings nicht. Es war ein gesellschaftlicher und machtpolitischer Kampf. Ein Kampf für die Gleichstellung der Frau – den wir auch heute nach wie vor kämpfen müssen.


Gleichberechtigung vor Entstehung des Grundgesetzes


Seit 1386 konnte man(n) in Deutschland studieren. Bis 1901 wurden Frauen nicht an Hochschulen zugelassen. Bis 1908 konnten Frauen keiner Partei beitreten. Erst 1918 erlangten sie das Wahlrecht. Menschlich bedeutete männlich. Im damaligen Familienrecht galt der Mann als Oberhaupt der Familie und hatte das letzte Wort (der sogenannte Stichentscheid des Mannes). Er hatte die Entscheidungsgewalt über den Wohnort, den Familiennamen, das Vermögen sowie die Erwerbstätigkeit der Frau. Er war alleiniger und gesetzlicher Vertreter der Kinder. Es galt die Ausbeutung der verheirateten Frau als kostenlose und nicht versicherte Arbeitskraft im eigenen Betrieb. Frauen waren für den Haushalt zuständig und durften nur Entscheidungen „im Namen des Mannes“ treffen.


Elisabeth Selbert


Elisabeth Selbert (geb. Martha Elisabeth Rohde, *22. September 1896, †9. Juni 1986 in Kassel) war bedeutende SPD-Politikerin und promovierte Juristin. Schon in jungen Jahren war sie finanziell unabhängig und arbeitete als Auslandskorrespondentin bei einer Import-Export Firma und als Postbeamtenanwärterin. Durch ihren 1920 geheiraten Mann, Adam Selbert (Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrats der SPD), interessierte sie sich für den Sozialismus und gesellschaftspolitische Themen. Kurz darauf kamen ihre zwei Söhne zur Welt (Herbert und mein Opa Gerhart). Sie wurde SPD-Mitglied, holte ihr Abitur als Externa nach und absolvierte ihr Jurastudium in Marburg und Göttingen. Dies gelang nur mit der Unterstützung der ganzen Familie und dadurch, dass Adam Selbert auf eine eigene politische Karriere teilweise verzichtete. „Wir waren eben überzeugte Sozialdemokraten, hatten also eine besondere Vorstellung von der menschlichen Freiheit und von dem Prinzip, das eigene Leben besser gestalten zu können […]“ (Eichel, Stolterfoht, S.13). Elisabeth Selbert war an ihrer Uni eine von insgesamt vier weiblichen Jurastudierenden, wobei sie als einzige promovierte. „Zerrüttung als Ehescheidungsgrund“ war bereits 1930 ihr Promotionsthema. Selbert wurde Rechtsanwältin und arbeitete ab 1934/35 in ihrer eigenen Anwaltskanzlei am Königsplatz 42 in Kassel. Nach Ende des 2. Weltkrieges wurde sie in die Verfassungsberatende Hessische Landesversammlung gewählt. „… [Wir] müssen […] Sicherungen der neuen Verfassung schaffen, um eine Justiz gegen die Demokratie ein für allemal zu verhindern“ (ebd. S.18). Sie arbeitete in der Verwaltung als Verbindungsperson zur amerikanischen Besatzung und wurde zur Stadtverordneten gewählt. 1948 wurde sie Mitglied des Parlamentarischen Rates, der unsere Verfassung ausarbeitete. „Elisabeth Selbert entschied sich dafür, an der Ausgestaltung der Justizgrundrechte und der Organisation der Rechtsprechung mitzuwirken, denn nach ihrer Erfahrung mit der Justiz im Nationalsozialismus hielt sie es für besonders wichtig, dem Rechtsstaatsprinzip und dem Gedanken der Gewaltenteilung zur Geltung zu verhelfen“ (Limbach, S.239).


Implementierung von Artikel 3 Absatz 2 Grundgesetz


Der Parlamentarische Rat war beauftragt, 1948/49 eine deutsche Verfassung auszuarbeiten. Er bestand aus 66 gewählten Mitglieder*innen, darunter vier Frauen. Frieda Nadig, Helene Weber, Helene Wessel und Elisabeth Selbert waren die „Vier Mütter des Grundgesetzes“. Es klingt jetzt so als seien sie von Anfang an honoriert worden. Pustekuchen. Erstmalige Erwähnung der vier Mütter des Grundgesetzes fand nachweislich im Korpus Google Bücher im Jahre 1976 statt. Elisabeth Selbert vertrat von Anbeginn den Formulierungsvorschlag „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“. Dieser wurde allerdings in der 1. Lesung des Hauptausschusses im Parlamentarischen Rat abgelehnt. Man befürchtete ein Rechtschaos dadurch, dass viele Teile des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) verfassungswidrig würden und es eine umfassende Reform des Familienrechts bedürfte. Es sollte ursprünglich der Satz der Weimarer Reichsverfassung übernommen werden: „Männer und Frauen haben die gleichen Staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.“ Faktisch wäre die Gleichberechtigung auf das Wahlrecht der Frauen beschränkt gewesen. Die CDU brachte den Vorschlag ein: „Das Gesetz muss Gleiches gleich, es kann Verschiedenes nach seiner Eigenart behandeln.“ Verschiedenes nach seiner Eigenart! Man ahnt schon die verschiedenen Eigenarten der Frauen im Verhältnis zu den Männern. „… in meinen kühnsten Träumen habe ich nicht erwartet, daß der Antrag im Grundsatzausschuß abgelehnt werden würde. Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß man heute weiter gehen muß als in Weimar und daß man den Frauen die Gleichberechtigung auf allen Gebieten geben muß. Die Frau soll nicht nur in staatsbürgerlichen Dingen gleichstehen, sondern muß auf allen Rechtsgebieten dem Manne gleichgestellt werden“ (Stenographische Protokolle des Hauptauschusses, Bonn 1948/49, S. 206). Elisabeth Selbert drohte: „Sollte der Artikel in dieser Fassung heute wieder abgelehnt werden, so darf ich Ihnen sagen, daß in der gesamten Öffentlichkeit die maßgeblichen Frauen wahrscheinlich dazu Stellung nehmen werden, und zwar derart, daß unter Umständen die Annahme der Verfassung gefährdet ist“ (17. HptA am 3.12.1948). Maßgeblich waren die Frauen zu dieser Zeit, da der Frauenüberschuss nach Kriegsende 1,7 zu 1 betrug. Sie hielt Vorträge in unterschiedlichsten Städten und organisierte einen bundesweiten Protest. Frauenvereine, Politikerinnen und Gewerkschafterinnen und verschiedenste Gruppierungen meldeten sich zu Wort, sodass „waschkörbeweise“ Zuschriften von Frauen im Parlamentarischen Rat eingingen. Sechs Wochen später – in der 2. Lesung wurde der Antrag einstimmig angenommen. Der Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ gelangte in Artikel 3 Absatz 2 Grundgesetz. Darüber hinaus wurde eine Übergangsregelung in Artikel 117 GG implementiert, dass bis zum 31.03.1953 das nun verfassungswidrig gewordene Familienrecht an das Grundgesetz angepasst werden sollte.

War dies der Verdienst einer einzelnen Frau? Natürlich nicht. Die Umsetzung der rechtlichen Gleichstellung von Mann und Frau in unserer Verfassung haben wir vielen verschiedenen historisch gewachsenen und gesellschaftlichen Umständen zu verdanken und vielen engagierten Frauen und Frauenverbänden. Dennoch ist Elisabeth Selbert maßgeblich an der Implementierung beteiligt gewesen. Sie selbst bezeichnet es als „Sternstunde ihres Lebens“.


Gleichberechtigung nach 1949


Wurde die Umsetzungsfrist vom 31.03.1953 eingehalten? Nein. Erst Mitte der 1970er Jahre wurde das Familienrecht umfassend reformiert. Die Vergewaltigung in der Ehe blieb noch bis zum Jahre 1997 (!) straflos. Heute erlebt jede dritte Frau in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben Gewalt. Jeden dritten Tag stirbt eine Frau aufgrund von häuslicher Gewalt. Bei Vergewaltigung, sexueller Nötigung und sexuellen Übergriffen in Partnerschaften sind die Opfer zu 98,4 Prozent weiblich (BMFSJ, BKA). Noch immer werden Frauen schlechter bezahlt, noch immer werden sie bei der Besetzung von Spitzenpositionen übergangen. Noch immer gibt es zu wenig weibliche Vorbilder denen junge Menschen nacheifern können. Noch immer werden Kinder stereotyp erzogen.

Eins ist sicher: Gleichberechtigung und Gleichstellung ist nichts was uns einfach zufällt. Es ist nicht selbstverständlich und nicht automatisch oder gar auf Dauer. Was sind schon gut 70 Jahre der Gleichberechtigung im Hinblick auf unsere menschliche Existenz?! Gebt Ungerechtigkeiten wie gläserne Decke, genderpaygap, Mental Load, und mansplainig einen Namen. Lasst Frauen zu Wort kommen. Es bedarf unser aller Mitwirkung, jeden Tag! #weforshe


Quellen und Hinweise


Hrsg. Eichel, Stolterfoht, 2015, „Elisabeth Selbert und die Gleichstellung der Frauen. Eine

unvollendete Geschichte.“, Kassel, euregioverlag

Jutta Limbach, 1999, in „Ein Glücksfall für die Demokratie. Elisabeth Selbert (1896-1986), die große

Anwältin der Gleichberechtigung.“, Hrsg. Hessische Landesregierung, Frankfurt am Main,

Eichborn Verlag

Verfilmung: „Sternstunde ihres Lebens“, 2014, Regie: Erica von Moeller, mit Iris Berben als Elisabeth



Johanna Selbert (Urenkelin)


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