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Mein polarisierendes Studium und ich

Updated: Sep 10, 2020


Leicht beschwipst und gut gelaunt sind meine Freundinnen und ich auf dem Weg zur nächsten WG- Party. Wir überlegen welchen Studiengang wir heute mal studieren könnten, falls die Fragen aller Fragen kommt: „Und was studierst du so?“


Wir mutmaßen welche Studiengänge wohl am wenigsten Aufsehen erregen. BWL vielleicht?

Kurze Zeit später habe ich es nicht auf die Tanzfläche geschafft und den Beer Pong Tisch kann ich nur aus der Ferne anschmachten. Ich bin verwickelt in ein Gespräch darüber, ob ich vor der Ehe Sex haben darf und welch grausige Taten – bspw. Kreuzzüge – die Kirche in den letzten 2000 Jahren begangen hat. Hätte ich doch mal gesagt, dass ich BWL studiere...


Ich habe sieben Jahre lang evangelische Theologie studiert. Nein, nicht auf Lehramt. „Voll“, wenn man so will. Als ich mich damals einschrieb, war mir durchaus bewusst, dass es ein eher ungewöhnlicher Studiengang ist, doch mit solch polarisierenden Wirkung auf manche Menschen mit diesem Studium hatte ich nicht gerechnet. Probiere es einfach auf der nächsten Party nach Corona aus: Erzähl deinem Gegenüber, dass du Theologie studierst. Ein einfaches „ah okay“ wird die seltenste Antwort sein.


Versteht mich nicht falsch, grundsätzlich setze ich mich gerne mit kritischen Anfragen gegenüber der Kirche auseinander und ich habe wirklich kein Problem mit Menschen, die dem ganzen sehr kritisch gegenüberstehen. Aber gerade samstags nachts wollte ich auf einer WG-Party dann doch lieber feiern statt einer Hasstirade über „die Kirche“ zu lauschen. Zumal ich ja ausschließlich ev. Theologie studiert habe.

Beruflich hatte ich zu der Zeit mit „der Kirche“ noch nichts am Hut. Außerdem konnte ich mich mit diesem Kreuzzugargument noch nie so richtig identifizieren. Zum einen liegen sie sehr weit zurück und zum anderen gehen sie dann doch eher auf das Konto der katholischen Kirche. Klar, alles was vor der Reformation in der kath. Kirche passierte gehört zwangsweise auch zur ev. Kirchengeschichte. Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist gut und wichtig. Mir liegt es da aber näher, mich mit jüngeren kirchengeschichtlichen Ereignissen kritisch auseinander zu setzten, bspw. das Verhalten ev. Pfarrer im 2. Weltkrieg – komisch, darüber wollte samstags nachts noch niemand mit mir diskutieren.

Lange Rede kurzer Sinn: Es gibt einfach nicht „die Kirche“. Die katholische Kirche und die evangelischen Landeskirchen in Deutschland sind in ihrer Theologie, ihrer Vergangenheit und in ihrem gelebten Glauben einfach unterschiedlich. Ich finde nicht, dass man beide Kirchen über einen Kamm schären kann. (Und dann gibt es da ja auch noch Freikirchen, die auch wieder ganz anders sind…)

Inzwischen mache ich mein Vikariat in der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck und ich bin extrem glücklich und dankbar über den Vertrauensvorschuss, den mir Menschen entgegenbringen. Ich komme gerne mit Menschen ins Gespräch über Glaube, Zweifel und Leben mit oder ohne Gott. Aber während meines Studiums hat es mich einfach immer wieder überrascht, dass mein Gegenüber so häufig meinen Studiengang auf sich bezogen hat. Alles was ich dafür sagen musste waren diese kleinen vier Worte: „Ich studiere evangelische Theologie.“


Vor einiger Zeit war ich auf einer Party und fragte mein Gegenüber, was er beruflich so macht und erfuhr, dass er bei Rheinmetall (Rüstungskonzern in Kassel) arbeitet. Ich war baff und bezog seinen Beruf sofort auf mich: da könnte ich nie im Leben arbeiten! Ich fragte ihn, ob dieser Beruf nicht sehr polarisierend sei und ging davon aus, dass er damit häufig negative Erfahrungen macht. Tja, ich war noch mal baff: Nein. Nur wenige Menschen reagieren negativ.


Seit der Party beschäftigt mich eine Frage: Woran liegt es, dass ich als Theologin häufig in scharfe Diskussionen über Kirche und Glaube verwickelt werde, selten sogar Anfeindung dafür erfahre, aber andere in der Rüstungsindustrie arbeiten ohne eine Diskussion auszulösen?


Lena

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