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Verlässlichkeit als Tugend

Updated: Jun 23, 2020




Wo ist sie hin die Verlässlichkeit?


Ein Begriff, eine Tugend, die in dieser schnelllebigen und flexiblen Welt ein rares Gut geworden ist? Sich verabreden und kurz vorher oder gar zur verabredeten Zeit absagen, „hey du ich schaffe es nicht, lass uns wann anders was machen.“ Verabredungen verschieben – immer wieder – , Fristen nicht einhalten, auf Geburtstage nicht gehen oder gar gratulieren, sich nicht melden, nicht antworten, nicht zurückrufen, sich nicht erkundigen - weil man was anderes vor hat, sich nicht sonderlich gut fühlt oder einfach, weil man gerade nicht so in der Stimmung ist. Man kennt’s!

Verlässlichkeit. Was genau bedeutet es eigentlich „sich auf jemanden verlassen“, „verlässlich sein“?

Der Begriff „verlässlich“ stammt aus dem 18. Jh. und meint eine sichtbare und auf Erfahrungen beruhende Vertrauenswürdigkeit einer Person oder die Funktionstüchtigkeit eines Objektes. Verlässlichkeit kann sich ausdrücken in Pünktlichkeit, Treue, Ehrlichkeit, Tüchtigkeit, Standfestigkeit und Loyalität. Es beschreibt neben der Vertrauenswürdigkeit auch das Verantwortungsbewusstsein, Achtsamkeit, Aufmerksamkeit, Authentizität, Glaubwürdigkeit, Gewissenhaftigkeit, Gründlichkeit, Pflichtgefühl und Gültigkeit. Es geht darum, etwas umzusetzen, was man versprochen hat und worauf andere sich verlassen haben. Es kommt grundsätzlich also nicht nur auf die (nicht-)handelnde Person an, sondern auch immer auf das Gegenüber und in welcher Erwartungshaltung diese Person zu einem steht.

Was macht Verlässlichkeit zu einer Tugend? Unter einer klassischen Tugend versteht man eine hervorragende Eigenschaft oder vorbildliche Haltung. Es geht dabei um eine wichtige und erstrebenswerte Charaktereigenschaft, die eine Person dazu befähigt, das sittlich Gute zu verwirklichen. Die Verlässlichkeit bildet in meinen Augen eben eine solche Tugend. Sie ist der Grundstein menschlichen Zusammenlebens. Nur so kann Kommunikation und Gemeinschaft funktionieren. Nur so können Identitäten ernst genommen werden. Als soziale Wesen müssen wir uns auf andere verlassen können. Empathie und Verlässlichkeit sind für mich die Grundpfeiler sozialer Gemeinschaft und funktionierender Interaktion. Es ist die Verlässlichkeit, also das folgerichtige Sprechen, welche die Grundlage der Handlungskoordination bildet. Sie schafft Vorhersehbarkeit, Sicherheit und eine Struktur der Ermöglichung bei gegenseitiger Abhängigkeit.

Doch was wäre, wenn alle zu hundert Prozent verlässlich wären? Es würde wohl mechanisch und kalt wirken und Spontanität, Kreativität und Flexibilität müssten darunter leiden. Jede übertriebene Tugend kann auch zu einem Laster werden und Borniertheit, Engstirnigkeit, Kurzsichtigkeit, Unverständigkeit, Beschränktheit, Vorurteil, Engherzigkeit, Intoleranz und Spießigkeit hervorrufen. Unzuverlässigkeit kann hingegen auch neue Möglichkeiten schaffen.

Doch müsste man nicht zwischen verschiedenen Arten der Verlässlichkeit unterscheiden? Ist bspw. die Unpünktlichkeit in Alltagssituationen gleichgewichtig mit der grundsätzlichen, absoluten, wahrhaftigen Verlässlichkeit einer Person, wenn es „drauf ankommt“? Wohl kaum. Doch wann genau kommt es „darauf an“? Definiert wird dies unterschiedlich und abhängig vom Gegenüber. Dennoch bedingt gleichwohl eine alltägliche Unzuverlässigkeit auch ebendiese grundsätzliche und fundamentale Verlässlichkeit. Unzuverlässige Menschen werden nicht ernstgenommen, das Vertrauen schwindet. Dies wird insbesondere in verantwortungsvollen Positionen, in Selbstverpflichtungen sowie Gruppendynamiken deutlich. Schlüssel dafür ist die Kommunikation und die Kommunikationsmacht. Entscheidend ist die Relevanz der Akteure in sozialen Interaktionen. Diese Relevanz ergibt sich aus eben dieser Verlässlichkeit. Kommunikatives Handeln setzt somit immer Verlässlichkeit voraus. So schrieb der Soziologe Jo Reichertz (womöglich etwas zu pathetisch) in seinem Artikel: „Menschen, denen Verlässlichkeit abgesprochen wird, sterben in gewisser Weise den ‚kommunikativen Tod‘ vor dem wirklichen.“

Es lässt sich also fragen, zu welchem Preis wir unzuverlässig sind oder sein wollen? Reicht uns der Zugewinn an Flexibilität und ausgeübtem Egoismus? Wie lässt es sich lösen das Spannungsverhältnis zwischen Moral und individualistischem Lebensglück? Wir müssen vielleicht nicht zurück in die 90er in Bezug auf Verabredungen. Dennoch erscheint es mir sinnvoll, sich kritisch mit der eigenen (Un-)Zuverlässigkeit auseinanderzusetzen und auch gerade in der beschleunigten, fragmentierten und verdichteten Zeit innezuhalten und weniger ich und manchmal vielleicht mehr den Anderen im Blick zu haben. Einigen wird es nichts ausmachen ein unzuverlässiges Gegenüber zu haben – anderen allerdings schon: und dann stirbt der Unzuverlässige eben diesen „kommunikativen Tod“. Er wird exkludiert, nicht mehr gehört, verliert seine Handlungsfähigkeit und wird letztlich emotional bedeutungslos. Vielleicht reguliert sich die Verlässlichkeit im sozialen Kontext daher einfach von selbst. Vielleicht bedarf es aber auch einer Renaissance ebendieser wertvollen Tugend. Ein Versuch ist es wert!


Johanna


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