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„Und was wird es?"

Updated: Jun 22, 2020



Als sich etwa zu Mitte meiner Schwangerschaft deutlich der Kugelbauch unter dem Pulli abzuzeichnen begann, machte ich die interessante Erfahrung, dass wildfremde Menschen auf der Straße einen interessiert beobachten: sei es das solidarische Lächeln einer Mutter, der wehmütige Blick einer alten Dame oder der ältere Herr, dem ich unterstelle, dass er abschätzig schaut, weil er mich für eine unverheiratete Teenie-Muddi hält. In einer Stadt wie Berlin wird man außerdem oft angesprochen und der Smalltalk mit Fremden, den ich prinzipiell wirklich gerne mochte, begann meistens mit der Frage: „Was wird’s denn? Junge oder Mädchen?“ Dass ich dies nicht wisse und mein Partner und ich uns mit dem Geschlecht überraschen lassen wollen, empfanden viele als äußerst unbefriedigende Antwort. „Hä? Und wie wählt ihr dann die Babykleidung aus? Und in welcher Farbe streicht ihr die Wände im Kinderzimmer?“ Ähm, so kompliziert find ich es gar nicht. Ich kaufe rote, grüne, orangene, lila, gelbe und graue Kleidung. Und süß, dass Du denkst, wir könnten uns eine Drei-Raum-Wohnung in Berlin leisten. ;) Es blieb aber nicht bei den Fragen. Viele meinten, am Bauch bzw. an meinem Aussehen erkennen zu können, was es denn werden würde (und lagen damit erstaunlicherweise oft

richtig, aber das ist ein anderes Thema.): „Ach Caro, Du siehst aus wie immer, das wird ein Junge! Denn ein Mädchen raubt der Mama schon im Bauch die Schönheit!“ Mädchen sollen sich außerdem angeblich häufig erst nach dem errechneten Geburtstermin auf den Weg machen, denn „Mädchen brauchen mehr Zeit, um sich hübsch zumachen“. Auch die ersten Bewegungen des Ungeborenen werden geschlechtsspezifisch kategorisiert: Das Baby tritt der Mama gegen die Bauchdecke? Klaro, ist ja ein Junge, das wird sicher mal ein erfolgreicher Fußballer! Das Baby stupst sanft von innen und sagt hallo? Ach wie süß, die Kleine tanzt durch Mamas Bauch! Ganz naiv kaufen wir also die Kleidung für unser Kleines, farbenfroh wie eh und je, kein Problem, denn die meisten Berliner Second-Hand-Läden sortieren nicht nach Mädchen- oder Jungenkleidung. Bei einem Besuch in der Kasseler Heimat musste dann allerdings ein neuer Schlafanzug her und secondhand stand nicht zur Option. Nun stehe ich bei „Ernstings Family“ und muss mich entscheiden zwischen rosa-glitzernden-Krönchen-tragenden Einhörnern und säbelschwingenden Piraten, Autos und Slogans in Großbuchstaben wie: „Hey! It´s me! LET´S GO!“ Aber das ist ja mittlerweile bekannt, unzählige Artikel sind über das rosa-blau-Debakel bereits geschrieben worden, da braucht es nicht noch einen von mir. Überrascht war ich dann allerdings doch, als ich im H&M einen Body mit den Worten 'Boys don´t cry' sichte. Und sage mir innerlich, dass ich meinem Sohn, den ich in meinem Bauch vermute, dazu ermutigen möchte, dass er immer weinen darf. Die Welt braucht nicht noch einen Mann, der seine Gefühle in sich vergräbt und sich nicht traut, sie nach außen zu tragen. Am Ende kaufe ich den Schlafanzug, den ich für den „neutralsten“ (haha) halte: grau mit Traktoren darauf. Zuhause ärgere ich mich, dass ich es nicht geschafft habe, einfach einen in rosa zu kaufen. Auswahl in rosa gab es genug.


Während auf manchen Teilen dieser Erde tragischerweise weibliche Embryonen abgetrieben werden, da es für ihre Familien existenzbedrohend ist, ein oder mehrere Mädchen zu gebären, kriege ich im Laufe meiner Schwangerschaft immer mehr das Gefühl, dass hierzulande und heutzutage, Mädchen höher im Kurs stehen. Ein Argument sei, dass man Mädchen so süße Kleidung kaufen und anziehen könne. Ein zweites Argument geht allerdings viel mehr in die Tiefe: Mädchen seien treuer, emotionaler, sozialer, familiengebundener. Schaue ich auf meine eigene Familie, muss ich dieser Aussage wohl oder übel zustimmen: obwohl mein Bruder zu unseren Eltern ein überwiegend gutes Verhältnis hat und er sie zweifelsohne sehr lieb hat, nehme ich wesentlich öfter das Telefon in die Hand oder setze mich in den Zug, um sie zu besuchen. Außerdem sind etwa zwei Drittel der Personen in Deutschland, die Pflege von Familienangehörigen übernehmen, weiblich. (Die Gründe dafür sind mindestens einen eigenen Artikel wert.) Hinter dem Wunsch nach einem Mädchen scheint, meines Empfindens nach, also möglicherweise die Hoffnung bzw. der Wunsch zu stecken, dass sich das erwachsene Kind später einmal weniger distanziert, sondern emotional nah bei einem bleibt, den Kontakt aufrechterhält und mehr in die Eltern-Kind-Beziehung investiert. Dabei handelt es sich natürlich nur um eine Hypothese meinerseits. Der eben beschriebene Wunsch ist außerdem nicht zu verurteilen, aber es lohnt sich zu hinterfragen, was der Ursprung dieser geschlechtsspezifischen Erwartung ist.

Mittlerweile sind wir uns doch alle einig, dass nicht in unserer DNA festgeschrieben ist, ob wir als Erwachsene unsere Eltern regelmäßig anrufen und uns ehrlich interessiert nach ihnen erkundigen oder ob wir nur anrufen, wenn wir Fragen zu unserer Steuererklärung oder der Reiniung des Abflussrohrs haben. Es geht doch vielmehr um das individuelle Verhältnis vom Kind zu seinen Eltern, den Charakter des Kindes, die lebenslange Beziehung, die sie führten und nicht um unsere Erwartungen und unreflektierte Geschlechterklischees, die wir über die Jahre während Erziehung an sie weitertragen, offen oder "zwischen den Zeilen". Gehe ich als die Mutter eines Sohnes davon aus, dass er sich emotional von mir entfernen wird, sobald er "flügge" wird? Ich gebe zu, als Mutter eines Sohnes kann das ein beängstigender Gedanke sein. Wie kann ich es schaffen, meinem Kind zu vermitteln, dass es frei entscheiden kann, ob es mich im Alter pflegen wird oder man sich regelmäßig sieht und nicht nur an Feiertagen und dass das so rein gar nichts mit ihrem oder seinem Geschlecht zu tun hat? Nicht, dass es zur sogenannten "selbsterfüllenden Prophezeiung" kommt, indem ich meinem Sohn jahrelang offen oder indirekt vermittele, dass er mich als Mutter eines Tages "verlassen" wird und ich mich darauf bereits jetzt einstelle, während seine Schwester aufgrund ihres Geschlechtes emotionaler einbezogen wird und ihr von klein auf mehr Veranwortungsgefühl gegenüber familiären Verpflichtungen eingetrichtert wird. Das ist nun also die Theorie. In der Praxis werde ich nun also versuchen, meinen Sohn dabei zu unterstützen, sich frei zu entfalten und ihn mit so viel Liebe und Sicherheit wie möglich in den nächsten Jahren zu begleiten. Ihn so akzeptieren und lieben, wie er ist und einmal sein wird. Versuchen, keine Erwartungen an ihn zu stellen, die daran geknüpft sind, dass er ein Junge ist. Ihn nicht aufgrund seines "Jungenseins" in eine bestimmte Richtung zu lenken. Fünf Minuten nachdem ich diese Zeilen schreibe, blicke ich verträumt und müde in den Garten und stelle mir vor, wie im kommenden Sommer bei strahlendem Sonnenschein mein Sohn einem Fußball hinterherrennen wird. Verdammt. Wäre es der gleiche Tagtraum bei einen Mädchen, oder wäre der Fußball durch ein anderes Spielzeug ersetzt? Diese gesellschaftlichen Bilder und Klischees sind so tief in uns vergraben, es wäre vermessen, zu sagen, ich hätte sie ansatzweise überwunden. Also bleibt nur eines: immer wieder reflektieren, innehalten, hinterfragen.

Wichtig zu sagen ist mir, dass ich es auf keinen Fall für falsch halte oder verurteile, seinem Babymädchen süße Blumenkleider anzuziehen. Das würde ich bestimmt auch tun, hätte ich eine Tochter. Und auch wer heimlich doch eine kleine "Geschlechts-Präferenz" hat, muss sich dafür nicht schämen. Vielleicht wünschen sich auch viele werdende Mütter eine Tochter aus einer Art Zusammengehörigkeitsgefühl in unserer doch sehr männlich geprägten Gesellschaft. Und ich glaube des Weiteren nicht, dass das Geschlecht ausschließlich sozial konstruiert ist. Und dennoch ist da mein starker Wunsch, dass die zwei großen Kategorien weiblich und männlich nicht schon in der Entstehung des Lebens einen dermaßen hohen Stellenwert erhalten. Warum sollten sie auch? Schließlich wissen Kinder, bevor sie drei Jahre alt sind, selbst noch nicht, welchem Geschlecht sie angehören und bevor sie zwei sind, wissen sie dieses noch nicht zu unterscheiden. Worin unterscheiden sich also weibliche und männliche Babys denn wirklich? Und welche Wünsche und Vorstellungen projizieren wir Erwachsene in unsere Babys? Wir alle struggeln mit geschlechtsspezifischen Erwartungen an uns, ausgehend von der Gesellschaft, Politik und der eigenen Familie. Mein Wunsch wäre es, nicht schon auch unsere Kleinsten mit Erwartungen zu überladen und frühzeitig zu beginnen, zwingende Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu benennen. In einer schwangeren Frau wächst ein kleiner Mensch heran und das ist eine unglaubliche Leistung und so kitschig, wie es auch klingen mag: ein Wunder. Meiner Meinung nach sollte die Geschlechterfrage nicht das Erste und das Wichtigste sein, womit man eine schwangere Frau konfrontiert. Es wird ein Baby. Im besten Fall wird es gesund. Und wenn nicht gesund, dann hoffentlich glücklich.

Der Moment, als ich es endlich geschafft hatte und unser Baby auf die Welt kam, war der überwältigstende und schönste Moment in meinem Leben. Mein Freund und ich hatten von Beginn an auf einen kleinen Jungen getippt und es war unglaublich stimmig und schön, als dann am Ende unser "Bauchgefühl" bestätig wurde. Klar ist allerdings auch, dass meine Freude und mein Glück nicht ein Funken mehr oder ein Funken weniger gewesen wäre, wäre es ein Mädchen gewesen. Und sind wir mal ganz ehrlich: als ob dieses kleine Ding den großen Unterschied machen sollte. ;)


Carolin


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