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Stadt Land Frust

Updated: Jun 22, 2020

Habt ihr Lust auf ein paar Runden „Stadt, Land, Fluss“? Bis heute hat das Spiel seinen Spaß für mich nicht verloren. Vor allem, weil es zahlreiche Erinnerungen in mir weckt, wie zum Beispiel diese: Als Kind habe ich für den Buchstaben K, grundsätzlich in die Kategorie „Stadt“ Kassel geschrieben. Klar, war ja auch die erste Stadt, die ich als Kind gesehen hatte. Kassel. Wahnsinn, wenn Mama mit dem Auto in der Königsgalerie geparkt hat. Für ein Dorfkind (aufgewachsen in einer Siedlung mit nicht mehr als 150 Einwohner*innen), war das schon eine Aufregung wert. Die Anspannung und Vorfreude stiegen, sobald wir aus der Tiefgarage heraustraten. Die Stadt übte eine seltsame Faszination auf mich aus. Die Menschen waren alle so unterschiedlich. Ich wusste nicht, wo ich zuerst hinschauen sollte und hatte gleichzeitig das Gefühl, ich selbst würde von allen angeschaut. Entlarvt und enttarnt als Dorfkind was ich war. Meine Kleidung, meine Mama, mein Bruder, die Art wie gestresst und gehetzt wir uns durch die Geschäfte auf der Königsallee zwängten, musste den „Städtern“, den Menschen die hier lebten, doch sofort auffallen. Ich fühlte mich verunsichert, und

gleichzeitig gespannt wie ein Flitzebogen. Gern hätte ich das Baguette von „Baguettski“ zum hier essen, statt mitnehmen genossen. Doch länger als ein paar Stunden hielten sich mein Bruder und meine Mama in der Stadt nur ungern auf. Ich hatte damals schon das Gefühl, dass es sehr viel mehr als unsere kleine Siedlung geben musste und Kassel war mein Beweis dafür. Also wurde ich mit den Jahren immer unzufriedener mit dem Leben auf dem Land. Die Ruhe stresste mich, die Nachbarn störten mich mit ihren Nachfragen wie „un Laura, wie wa dann die Schule heude?“ Ich wollte nicht angeln, nicht zur freiwilligen Feuerwehr. Meine Gummistiefel waren zu klein. Ich wollte nicht immer nur auf der gleichen Bank mit meinen Freunden auf die ewig gleichen Raps und Kornfelder blicken und darüber sprechen, wie das Leben wohl woanders wäre. Also zog ich vom Land in die Stadt. Und da war sie wieder. Die Aufregung. Die Unsicherheit. Als Kind vom Land nun in der Stadt. Jeder wird es mir anmerken und sofort wissen, dass ich mit Bauern gechillt hatte. Man sah es mir an, wie ich in der Straßenbahn nervös auf die Anzeige „nächster Halt“ schaute, weil ich einfach vorher nie Straßenbahn gefahren bin. Ich hatte Angst, mich zu verfahren, mich nicht auszukennen. Nachdem ich auf dem Land nun mal jede Ecke und jeden Busch kannte. Gleichzeitig atmete ich auf. Ich fühlte mich frei und inspiriert, durch alles was ich sah und erlebte. Ich hatte das Gefühl zu wachsen, mich entfalten zu dürfen. Keiner quatschte mir rein, keiner fragte jeden Tag wie es meiner Oma oder sonst wem ging. Ich war frei. Frei von meiner Familie, von den Werten, den Vor- und Einstellungen vom Land. Mein Leben konnte beginnen. Endlich! Überall war etwas los, was ich auf dem Land so sehr vermisst hatte. Hier fand ich es. Menschen, die stritten, Menschen, die lachten, die quatschten, die Kaffee tranken. Arme Leute, reiche Leute, der Querschnitt der Gesellschaft. Hier hatte ich ihn gefunden und ich liebte es! Die Transformation vom Landkind zum Stadtmensch schien geglückt.


So fuhr ich lange Zeit von der Stadt auf´s Land, um meine Familie zu besuchen und konnte mir immer weniger vorstellen, dort zu leben. Ich zog also in eine noch größere Stadt, noch weiter von meiner Familie und dem Land, auf dem ich aufwuchs, entfernt. Und dann erwischte es mich. Erst ganz schwach und selten, dann häufiger und stärker. Ich lebte zu dieser Zeit in einer WG an einer ziemlich lauten Straße. Ich spürte plötzlich, wie mich der Lärm zu stressen begann. Erst nur im Schlaf, dann auch tagsüber. Wie ich mich nach der Bank in den Rapsfeldern sehnte. Wie ich an meine Schulzeit im Jesberger Freibad dachte, mit all den Bauern und den Hippiebrötchen, mit Sonnenbrand auf den Schultern vom Startblock springen und jeden zu kennen, den man sieht. Mir kamen nicht selten Tränen, wenn ich mit dem Zug von der Stadt Richtung Land fuhr und die Felder und Wiesen sah. Ich fing also an Stöcke und Äste zu sammeln, kaufte Pflanzen und Blumen, um mir das Land in die Stadt zu holen. Meine Urlaube wurden Trips auf's Land statt in Städte. Abgelegen wollte ich

Zeit verbringen. Menschen beim Vorbeigehen grüßen und einen schönen Tag wünschen. Der Querschnitt der Gesellschaft machte mich häufiger nachdenklich und traurig. Die vielen Menschen, der Verkehr begann mich einzuengen. Ich wollte zurück in meine Gummistiefel, wenn ich traurig war.


Jetzt denkt ihr bestimmt, „vom Land in die Stadt und wieder zurück?“. Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Ein Mittelweg wäre klasse, denn egal wo es hingeht, ich schätze es ist immer Stadt, Land, Frust. Denn beides kann gleichermaßen beengend oder befreiend, einsam oder gesellig, inspirierend und aufregend, zu viel oder zu wenig sein.


Ein Gastbeitrag von Laura Horn



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