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Mord und Totschlag auf dem Laufsteg !?

Updated: Sep 10, 2020

Der türkisch- britische Modedesigner Hüseyin Çağlayan fasziniert sein Publikum mit Anspielungen auf den „düsteren Orient“





„Murder on the Orient Express“ nennt der renommierte Designer und Konzeptkünstler seine 2015 erschienene Herbstkollektion, welches die Kritiker*innen schon beim Erscheinen des Titels wohlig erschauern lässt. Ein Verweis auf Agatha Christies berühmten Kriminalroman aus dem Jahre 1934 und den gleichnamigen Film von 1974.

Hochwertiger Jaquardstoff in grau weiß entführt uns in einen wilden Schneesturm, wo der berühmte Orient- Express in Christie‘s Fiktion steckenblieb. Felle und Seidenstoffe wechseln sich ab und bilden spannende Übergänge und Brüche. Krimifans finden die Landkarte aus Sydney Lumets Filmklassiker auf Strickstoffen wieder. Alles sehr mystisch. Und sehr orientalisch?!

Der Roman „Murder on the Orient Express“ schildert die komplizierten Ermittlungen des Detektivs Hercule Poirot zu dem Mord eines Verbrechers namens Samuel Edward Rachett. Am Ende stellt der Detektiv dem Direktor der Bahngesellschaft die Theorie vor, dass alle Reisenden an dem Mord beteiligt gewesen seien könnten oder, dass es gewissen Aussagen zufolge der „kleine Mann mit dunklem Teint und femininer Stimme“ war, woraufhin der Bahndirektor letztere Theorie für richtig hält. Indem Çağlayan sich auf die Literatur bezieht, intellektualisiert er seine Kollektion und eröffnet Interpretationsspielräume, die über die Rezeption von Mode hinausgehen. Doch warum nennt er sie „Murder on the Orient Express“? Einer finsteren Kollektion hätte Çağlayan die Namen unzähliger Krimis geben können. Der Titel ruft unterschiedliche Assoziationen hervor, je nachdem ob man den Roman gelesen hat, den Film gesehen hat oder vielleicht eine Affinität für den „mysteriösen“ Orient hat. Mit der Mode gehen wir seit jeher auf Reisen: geographisch und zeitlich. Der Orientexpress verweist auf eine unbestimmte Vergangenheit (die wenigsten reisen heutzutage mit dem Zug von London nach Istanbul) und auf einen fernen Ort: den „Orient“ (ein nicht klar definierter Oberbegriff, in dem geographisch auseinanderliegende Orte, Vorstellungen und Elemente unterschiedlicher Kulturen zusammenfließen). Der Titel kann Gewaltfantasien beim Publikum auslösen, vor allem wenn bereits vorhandene Stereotype vom „gewaltbereiten muslimischen Mann“ getriggert werden. Die im Roman zusammengebrachte Merkmale des Verbrechers „dunkler Teint“ und „feminine Stimme“, stellen eine Verbindung zwischen den Konzepten „Orient“ und „Weiblichkeit“ her, welche im europäischen Glaubenssystem jahrhundertelang für Rückständigkeit standen, daher oft gemeinsam assoziiert wurden. Die Feminisierung des Orients bewies dessen angebliche Unterlegenheit dem Okzident gegenüber, während die Orientalisierung zur Herabwürdigung des Weiblichen diente. Eine Haltung, die bis heute nicht gänzlich überwunden ist und als Marketingstrategie genutzt und aufrecht erhalten wird.Auch Çağlayan erklärt den Namen seiner Kollektion mit der jahrhundertealten Stereotypisierung des nahen und fernen Ostens in der europäischen Rezeption. “It’s to do with the relationship between the Occident and Orient….how the Orient was seen as kind of mysterious and fearful and dark...” Trotz des intellektuellen Anspruchs, den der Designer in Bezug auf seine Mode hat, hinterfragt er seine Verwendung von Klischees nicht, sondern benutzt sie, um seine Kollektion als „exotisches Produkt“ auf dem westlichen Modemarkt zu vermarkten.


Orientalisierende Mode kann ganz unterschiedlich wahrgenommen werden, je nachdem ob sie am weiblichen oder männlichen Körper gezeigt wird; ihre Präsentation durch (weiße) Frauen ist jedoch vorherrschend. Doch der Orientstil bleibt nicht nur Modellen auf dem Laufsteg vorbehalten. In jedem größeren Kleidungsgeschäfts kann frau orientalisierende Kleidungsstücke wie die „Haremshose“ erstehen: locker sitzende, dünne Stoffhosen, welche ein Gefühl von Gemütlichkeit und Exotik vermitteln. Der Harem als eine Institution in islamischen Ländern, dem abgetrennten Teil eines Wohnhauses, zu welchem kein fremder Mann Zutritt hat, wird in Europa oft mit Vorstellungen von Erotik in Verbindung gebracht. Vielleicht erwecken Kleidungsstücke wie die „Haremshose“ den Eindruck, die Trägerin sei sehr weit gereist oder habe Kontakt zu einer „fremden Kultur“. Vielleicht hat sie auch „spirituelle Erfahrungen“ beim Yoga gesammelt oder lässt beim Bauchtanz gekonnt ihre Hüften kreisen. Selbst die anfänglich konsumkritische „Hippiekultur“, die aus der Sehnsucht nach mehr „Ursprünglichkeit“ und der Idealisierung des „Orients“ entstand, ist heute fester Bestandteil der Modeindustrie. Uns allen werden bei genauerem Beobachten viele Orientalismen in unserem Alltag auffallen. Ist es der Tee „magischer Orient“, den wir zu ein paar leckeren Schokodatteln genießen? Oder ein Reiseprospekt, der mit einer Entführung in die geheimnisvolle Welt aus 1001 Nacht wirbt? Nicht in jedem Fall sind Exotismen negativ zu bewerten. Sie können das Interesse, die Beschäftigung und den Austausch mit anderen Kulturen fördern. Träger*innen von orientalisierender Kleidung sollten sich jedoch darüber bewusst sein, dass diese immer im Zusammenhang mit einer langen Geschichte des Exotismus in Europa stehen und oft mit Machtinteressen verbunden sind. Der Austausch zwischen verschiedenen Kulturen sollte idealerweise beidseitig und mit Respekt, Offenheit und ehrlichem Interesse für das Gegenüber geschehen. Dabei ist zu hinterfragen, welche althergebrachten Bilder und Stereotype sich durch neue, vielseitigere Bilder ersetzen lassen und welche Rolle die eigenen Projektionen auf das Gegenüber in der Wahrnehmung des anderen spielen. Anstatt dass wir uns also für unser Interesse am „Exotischen“ schämen oder verurteilen, wäre es interessant, einen Blick auf die eigenen, damit verbundenen Vorstellungen und Bedürfnisse zu wenden.

Einige Fragen, die beliebig erweiterbar sind, sollen an dieser Stelle dazu anregen.


Was verbinde ich mit dem Wort „orientalisch“? Einen Ort? Eine Kultur? Eine Fantasie?

Was fehlt mir an meiner eigenen Kultur oder in meinem Umfeld?

Welche meiner geheimen Wünsche würde ich gern offener ausleben?

Was am Unbekanntem macht mir Angst?

Habe ich Gewaltfantasien, die ich auf ein fremdes Gegenüber projiziere, um mich davon zu distanzieren?

Habe ich das Gefühl, meine erotischen Fantasien ausleben zu dürfen?

Was bedeutet für mich Weiblichkeit? Männlichkeit?

Habe ich schon einmal einen Kulturschock erlebt? Wie bin ich damit umgegangen?

Welchen Bezug habe ich zu Mode und was möchte ich mit meiner Kleidung ausdrücken?

Wie sehr bin ich von Fremdzuschreibungen abhängig?

Welchem kulturellen Kontext fühle ich mich zugehörig und warum?

Habe ich manchmal das Gefühl, einer anderen Kultur überlegen oder unterlegen zu sein?

Habe ich bereits Diskriminierungserfahrungen aufgrund meiner (angeblichen) Herkunft gemacht?

Wie wurde ich in meiner Kindheit mit dem „Andersartigen“ konfrontiert und was haben mir meine Eltern über fremde Kulturen vermittelt?

Würde ich gern mal in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort leben?


Ein Gastbeitrag von Karla Aslan

 


Quellen:

Christie, Agatha: Mord im Orient Express. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 1933

Dogramaci, Burcu: „On the Orient Express with...“. Zur (Selbst-)Orientalisierung türkischstämmiger Modedesigner. In: Haehnel, Birgit/ Karentzos, Alexandra/ Petri, Jörg/ Trauth, Nina (Hg.)

Querformat. Anziehen! Transkulturelle Moden= Dressed up! Transcultural Fashion. Heft 6. transcript Verlag. Bielefeld 2014. S. 69- 75

Kastner, Jens: Was ist kulturelle Aneignung? In: Deutschlandfunk Essays und Diskurs. URL: https://www.deutschlandfunk.de/popkultur-debatte-was-ist-kulturelle-aneignung.1184.de.html?dram:article_id=397105. Aufgerufen am: 16.07.2020

Segre Reinach, Simona: Sichtweisen aus dem Orient und Sichtweisen auf den Orient. In: Haehnel, Birgit/ Karentzos, Alexandra/ Petri, Jörg/ Trauth, Nina (Hg.) Querformat. Anziehen! Transkulturelle Moden= Dressed up! Transcultural Fashion. Heft 6. transcript Verlag. Bielefeld 2014. S. 80- 83

Ohne Verfasser*in: Hussein Chalayan fall winter 2015: Murder on the Orient Express.

Aufgerufen am 12.02.2018

Ohne Verfasser*in: URL: https://www.vogue.com/fashion-shows/fall-2015-ready-to-wear/chalayan. Aufgerufen am 15.07.2020

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