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"Do you know it's bullshit?"

Was passiert, wenn eine Weihnachtsliebhaberin nüchtern Weihnachtssongs hört





Ich bin Weihnachtsfan – und das alle Jahre wieder.

Ich mag vieles von dem konventionellen Weihnachtskram: Weihnachtsmärkte, buntgeschmückte und hellerleuchtete Häuser, den Duft und Geschmack von Glühwein, Spekulatius und Weihnachtskeksen. Dieses Funkeln und dieser Hauch von Scheinheiligkeit, der ab Ende November in der Luft liegt, lässt die alte Romantikerin in mir einfach immer wieder schwach werden.

Als problematisch empfand ich bisher nur das exorbitante Ausmaß des Schenkens an Heiligabend.


Aber: dieses Jahr ist ja vieles anders, dementsprechend verlief natürlich auch meine Advents- und Weihnachtszeit ganz anders als gewohnt.

Viele Weihnachtstraditionen mussten in den letzten Wochen also ruhen.

Um dennoch in Fahrt zu kommen, beschallte ich mich über Radio und Spotify mit den altbekannten Weihnachtsklassikern. Denn als Weihnachtsliebhaberin habe ich durchaus eine gewisse Affinität für diese Lieder. Irgendwie bringen mich diese kitschigen Songs alljährlich in so eine schöne naive Weihnachtsstimmung. Und dann tut der süße Glühwein sein Restliches…

Allerdings: Da ich schwanger bin, stieg ich in diesem Jahr von Glühwein auf Punsch um. Ziel war es, sich von den Weihnachtsschlagern sozusagen nüchtern in Stimmung bringen zu lassen. Nüchtern betrachtet, kam ich aber leider nicht bei dem von mir angepeilten Ziel an, denn ich habe diesen Songs anscheinend zum ersten Mal in meinem Leben wirklich zugehört. Man war ich naiv…


Grundsätzlich kann ich nach wie vor ganz gut mit all dem weihnachtlichen Kitsch und Liebesschnulzen umgehen. Diese Lieder haben nur selten mehr mit dem christlichen Weihnachtsfest zu tun, als jeder Weihnachtsmarkt es hat. Das ist schon okay für meine romantische Weihnachtsseele.

Aber da ist ein Lied, dass dann doch inakzeptabel ist, sobald man einmal wirklich zu gehört hat: das Benefiz-Lied "Do They Know It’s Christmas?" (Band Aid) aus den 80er Jahren. Der Songtext ist einfach krass.

Entsetzt frage ich mich, wie ich diese blöden Textzeilen all die Jahre gekonnt überhören konnte. Ein kurzer Blick ins Internet reicht um zu realisieren, dass die Debatte um Song, Videoclip und Benefizgedanke ein alter Schuh ist. Leider ist sie bisher schlicht und ergreifend komplett an mir vorbeigegangen.

Erstmalig wurde "Do they Know It’s Christmas?" als Benefizsong in den 80er Jahren veröffentlicht. Er ist eine Reaktion Bob Geldorfs auf eine Reportage über eine Hungersnot in Äthiopien. In den letzten Jahrzehnten folgten zahlreiche neue Band Aid-Formationen. Seit 2014 gibt es sogar eine deutsche Variante. Im Großen und Ganzen blieb sich das Projekt stets treu: In den Videoclips treffen Stars und Sternchen im Tonstudio aufeinander und trällern sich die Seele aus dem Leib. Ziel jeder neuen Band Aid-Formation ist es Spenden für Menschen in Afrika zu sammeln.

Dass solche Spendenprojekte manchmal eben auch nach hinten losgehen oder zumindest kritisch betrachtet werden können wird zum Beispiel hier interessant diskutiert: https://daserste.ndr.de/panorama/aktuell/Band-Aid-30-Das-Richtige-wollen-Falsche-tun,bandaid136.html


Groß ist natürlich auch die Debatte darum, welcher Gedanke dahinter zu stecken scheint: Europäer/Amerikaner - oder sagen wir einfach Weiße - können da helfen, wo Menschen des betroffenen Kontinents sich selbst nicht helfen können. Charmante Reaktionen gibt es diesbezüglich auch aus den betroffenen Ländern:


Jan Böhmermann tat 2014 das, was ich erst dieses Jahr gemacht habe: zuhören und hingucken. So knöpfte er sich das deutsche Projekt in diesem Beitrag vor.


Natürlich, es ist immer sehr einfach, zu Hause auf der Couch zu sitzen, sich aufzuregen und Kritik zu üben, ABER bei diesem Projekt bleibt auch mir als bekennende Weihnachtsliebhaberin keine andere Wahl. Für diesen Moment möchte ich nur auf den Originaltext aufmerksam machen (alle weiteren strittigen Aspekte lasse ich außen vor). Die Originalfassung läuft auch heute in unseren Radiosendern rauf und runter und hat allein bei Spotify über 329 Millionen Klicks.

Der Song beginnt eigentlich ganz harmlos: die Weihnachtszeit wird als eine Zeit der Freude und Fürbitte besungen. So weit so gut.

Aber spätesten bei der Zeile "Well tonight, thank God, it's them instead of you" wird mir schlecht! Das ist nun wahrlich kein thank god wert und widerspricht jeglichem Gedanken der christlichen Nächstenliebe, die sowohl im Lied als auch im gesamten Benefizprojekt eine Rolle spielt. Zudem wurde diese Textzeile auch in der englischen Variante von 2014 genauso gesungen, die bei YouTube über 47 Millionen Aufrufe hat.

Wie konnte ich das all die Jahre überhören?

Es wird dann auch nicht mehr wirklich besser. Unter anderem aufgrund des vermeintlichen Mangels an Schnee auf dem afrikanischen Kontinent ertönt erneut die Frage „Do they know it’s Christmas?“

Je häufiger die Sänger*innen diese Frage voller Inbrunst stellen, desto provozierender und respektloser erscheint sie mir all den Christ*innen der zahlreichen afrikanischen Kirchengemeinden gegenüber. Denn die wissen ganz sicher, dass Weihnachten ist. Dafür braucht es keinen Schnee und "christmas bells".


Leider steckt in diesen Textzeilen so vieles, was nicht unkritisiert bleiben sollte. Vor allem dann nicht, wenn es ein Spendenprojekt ist. Spenden sind gut – natürlich! Aber sie sollten in jedem Fall respektvoll den betroffenen Menschen gegenüber gesammelt werden. Das scheint mir in diesem Projekt einfach nicht gelungen. Es bleibt nur zu hoffen, dass mit den Geldern verantwortungsvoll umgegangen und Hilfe geleistet wurde.


Nach dieser nüchtern verbrachten Advents- und Weihnachtszeit muss ich mir eingestehen, dass ich mich seit langem nicht mehr so sehr auf das wesentliche an Weihnachten konzentriert habe. Wo sonst Weihnachtsmarktbesuche, Partys und Glühwein berauschten, war Zeit zur Achtsamkeit. Ich war schon lange nicht mehr so offen für das, was wir wirklich an Weihnachten feiern: Gott wird Mensch. Vielleicht kann ich deswegen auch einfach nicht mehr diese immer wiederkehrende Frage Do they know it’s christmas time at all? hören, da sich mir immer mehr die Frage aufdrängt, ob die Sänger*innen überhaupt wissen was Weihnachten im Kern bedeutet.

Zum Glück habe ich dieses Jahr endlich zugehört. Tatsächlich war es ja nicht das erste Mal, dass ich erst nach einer gewissen Zeit realisiert habe, was ich in den verschiedensten Songs schon so mitgesungen habe… Viel zu häufig stecken hinter eingängigen Melodien und mitreißenden Klängen, Gedanken, die ich gar nicht unterstützen mag. Wir alle kennen sicher mehr als einen Song bei dem wir erst im Nachhinein verstanden haben, worum es wirklich geht...


Ich habe bei meinem Lieblingsradiosender angefragt, warum sie den Song "Do they know it’s Christmas?" nach wie vor spielen und bekam tatsächlich eine zufriedenstellende Antwort. Man freute sich gar über mein kritisches Zuhören, aber es ist eben wie mit vielen Popsongs: wir konsumieren, was schön klingt. Der Inhalt scheint zweitrangig. Spätestens als Radiosender scheint man rein musikredaktionell um manchen Hit nicht drumherum zu kommen - auch wenn man sich dem Text bewusst ist. Bei einem Hörer*innen Voting landet "Do They Know It's Christmas?" beispielsweise immer wieder auf einem der ersten Plätze.


Ich bin natürlich immer noch waschechter Weihnachtsfan. Aber inzwischen dann wohl doch etwas achtsamer bzw. aufmerksamer.


Lena

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